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Klassifikation und Diagnostik

Diagnose: problematischer Aspekt der klinischen Psychologie

tex2html_wrap_inline192 Klassifikationsschemata, die psychische Störungen ihren Symptomen gemäß zu Gruppen zusammenfassen tex2html_wrap_inline192 aber: sehr uneinheitliche Klassifikation

DSM-IV: Entscheidungen müssen auf klar und deutlich beschriebenen Gedankengängen und dem systematischen Überblick über empirische Erkenntnisse beruhen

kulturelle Einflüsse auf psychische Krankheiten: bei den beiden am gründlichsten untersuchten Störungen (Depression und Schizophrenie) scheinen die Kernsymptome in allen Kulturen ähnlich zu sein

DSM-IV: Das diagnostische System der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung

Die Achsen

Neuerungen in DSM-IV: Multiaxiale Klassifikation (5 Achsen)

tex2html_wrap_inline192 zwingt den Diagnostiker, große Vielfalt an Informationen zu berücksichtigen

  1. Achse: alle psychischen Störungen (Ausnahmen: Persönlichkeitsstörungen, spezifische Entwicklungsstörungen)
  2. Achse: Persönlichkeitsstörungen, spezifische Entwicklungsstörungen

    tex2html_wrap_inline192 eigentliche Klassifikation abweichenden Verhaltens auf Achse I und II

  3. Achse: alle körperlichen Störungen und Zustände
  4. Achse: Schwere der psychosozialen und umweltbedingten Belastungsfaktoren
  5. Achse: globale Beurteilung der sozialen und beruflichen Anpassung

Diagnostische Kategorien

Störungen, die gewöhnlich zuerst im Kleinkindalter, in der Kindheit oder in der Adoleszenz auftreten

intellektuelle, emotionale, körperliche, entwicklungsbedingte Störungen, die gewöhnlich im Kleinkind- und Kindesalter oder in der Adoleszenz beginnen

z.B. Trennungsangst, Verhaltensstörungen, Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivität, Geistige Behinderung, frühkindlicher Autismus, Lernbehinderungen

Substanzinduzierte Störungen

z.B. Alkohol, Opiate, Kokain, Amphetamine tex2html_wrap_inline192 Verhaltensänderung, so daß soziale und berufliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist

Schizophrene Störungen und andere psychotische Störungen

schizophrene Störungen: Absinken des früheren Leistungsniveaus in Bereichen wie Arbeit, soziale Beziehungen und Selbständigkeit, Sprache und Kommunikation

Wahnphänomene

Halluzinationen

Emotionen sind abgestumpft, abgeflacht oder unangemessen

paranoide Störungen: Verfolgungswahn

Affektive Störungen

Depressive Störung: tiefste Traurigkeit, Mutlosigkeit, Energie- und Gewichtsverlust, Suizidgedanken, Selbstvorwürfe

Manie: euphorisch, hyperaktiv, ablenkbar, unrealistisches Selbstwertgefühl

bipolare Störung: episodenhafte Manie, Wechsel von Manie und Depression

Angststörungen

Hauptmerkmal: Angst

Phobie: intensive Furcht vor Gegenstand oder Situation tex2html_wrap_inline192 Vermeidung , obwohl Betroffene wissen, daß Furcht irrational / unberechtigt ist und ihr Leben beeinträchtigt

Panikstörung: plötzliches Auftreten kurzer Attacken intensiver Angst

Agoraphobie: Angst vor verlassen der vertrauten Umgebung

generalisierte Angststörung: allgemeine, persistierende Angst

Zwangsstörung: anhaltende Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen, Verhalten steht mit dem, was es abwehren soll, in keinem vernünftigen Zusammenhang, starke Spannung bei versuch, Zwang zu widerstehen

posttraumatische Belastungsreaktion: Angst und Erstarrung nach traumatischem Ereignis, das außerhalb der allgemeinen menschlichen Erfahrungen liegt

Somatoforme Störungen

körperliche Symptome haben keine physiologischen Ursachen tex2html_wrap_inline192 scheinen psychologischem Zweck zu dienen

Somatisierungssyndrom = Briquet-Syndrom: wiederkehrende körperliche Beschwerden

Konversionsstörung: Verlust motorischer / sensorischer Funktionen

psychogenes Schmerzsyndrom: schwere und anhaltende Schmerzen

Hypochondrie: Fehlinterpretation geringfügiger körperlicher Empfindungen als schwere Krankheit

körperdismorphe Störung: Ständige Beschäftigung mit eingebildeter Veränderung der Erscheinung

Dissoziative Störungen

Hauptmerkmal: plötzliche Veränderung des Bewußtseins, die Gedächtnis und Identitätsgefühl beeinträchtigt

psychogene Amnesie: Vergessen der gesamten Vergangenheit oder von Ereignissen eines bestimmten Zeitraumes

dissoziative Fugue: Unerwartetes verlassen der gewohnten Umgebung, neues leben woanders, Unfähigkeit, sich an alte Identität zu erinnern

multiple Persönlichkeitsstörung = dissoziative Identitätsstörung: Mensch besitzt zwei oder mehr verschiedene, komplexe Persönlichkeiten, von denen jede zu einer bestimmten zeit dominiert

Depersonalisationssyndrom: intensives Gefühl der Selbstentfremdung und Unwirklichkeit

Psychosexuelle Störungen

Paraphilien: ungewöhnliche Quellen sexueller Befriedigung

sexuelle Funktionsstörungen: Unfähigkeit, den üblichen sexuellen Reaktionszyklus vollständig zu vollziehen

Störungen der Geschlechtsidentität: sehen sich selbst als Vertreter des anderen Geschlechts

Schlafstörungen

Dyssomnien: Störung des Schlafes durch Menge, Qualität oder zeit

Parasomnien: ungewöhnliche Ereignisse während des Schlafes

Eßstörungen

Anorexia nervosa = Magersucht

Bulimie

Vorgetäuschte Störungen

absichtliche Entwicklung physiologischer oder psychologischer Symptome, wollen in der Rolle einer kranken Person sein

Anpassungsstörungen

Entwicklung von emotionalen oder Verhaltenssymptomen, die starker Belastung durch Lebensereignis folgen

Störungen der Impulskontrolle

Verhalten ist unangemessen und offensichtlich unkontrolliert

intermittierende explosible Störung: Phasen gewalttätigen Verhaltens

Kleptomanie: regelmäßiges Stehlen von Gegenständen (will sie nicht benutzen oder aus finanziellen Gründen)

Pyromanie

pathologisches Spielen: Spielen als Möglichkeit, Problemen auszuweichen

Persönlichkeitsstörungen

langwierige, schlechtangepaßte Persönlichkeitsmuster

10 Arten

schizoide Persönlichkeitsstörung: verschlossen, zurückhaltend, kaum freunde, Gleichgültigkeit gegenüber Lob und Kritik

narzißtische Persönlichkeitsstörung: übermäßiges Selbstwertgefühl, Erfolgsphantasien, Bedürfnis nach dauernder Aufmerksamkeit, Neigung zur Ausbeutung anderer

antisoziale Persönlichkeitsstörung: Auftreten von 15. Lebensjahr, keinerlei Schuld- oder Schamgefühle, keine Bestrafung möglich

Andere Zustände, die von klinischem Interesse sein können

z.B. Schulschwierigkeiten, antisoziales Verhalten, Simualtion, Eheprobleme, Beziehungsprobleme, Berufsschwierigkeiten, physischer / sexueller Mißbrauch, Trauer, keine konstruktive Beteiligung an der Therapie, religiöse / geistliche Probleme, Lebensabschnittsprobleme

Delir, Demenz, amnestische und andere kognitive Störungen

organische psychische Störungen

Delir: Bewußtseinstrübung, wechselnde Aufmerksamkeit, unzusammenhängende Gedankengänge

Demenz: Abbau geistiger Fähigkeiten, v.a. des Gedächtnisses

organisch bedingte Wahnstörung

organische bedingte Depression

ICD-10: Das diagnostische System der Weltgesundheitsorganisation (WHO)

ICD- und DSM: basieren auf Prinzip operational definierter Diagnosekriterien (Kriterien und Entscheidungsregeln), auf deskriptivem = interpretationsfreiem Befund, Verzicht auf umstrittene nosologische<span style=mso-spacerun: yes>>  bzw. ätiologische Modelle

aber: ICD: keine Beurteilung auf mehreren Achsen

beide: Störung statt Krankheit

ICD-10: Alphanumerische Verschlüsselung der Diagnosen

Diagnostische Kategorien

Organische und symptomatische psychische Störungen (F00-F09)

psychische Störungen mit nachweisbarer Ätiologie in zerebraler Erkrankung, Hirnverletzung, anderer Schädigung, die zu Hirnfunktionsstörung führt (Delir, Demenz)

Psychische Störungen durch psychotrope Substanzen (F10-F19)

Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeitssyndrom (mit und ohne Delir)

Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20-F29)

Schizophrenie: charakteristische Auffälligkeiten im Denken, Wahrnehmen, Affekt, Individualität, Leistungsfähigkeit

schizotype Störungen: exzentrisches Verhalten, Affektverflachung, Anomalien des Denkens

wahnhafte Störungen: Begrenzung der Auffälligkeit auf Bestehen einer Wahnidee, eines Wahnsystems

Affektive Störungen (F30-F39)

Veränderung der Stimmung oder Affektivität

Stimmungswechsel begleitet von Wechsel des allgemeinen Aktivitätsniveaus

wiederholtes Auftreten

Neurotische-, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40-F49)

Angst, Depression, Erschöpfung, vielfältige körperliche Beschwerden (S. 73)

Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen (F50-F59)

Eßstörungen, nicht-organische Schlafstörungen, nicht organische sexuelle Funktionsstörungen, psychische Auffälligkeiten im Wochenbett, Substanzmißbrauch (ohne Suchtpotential)

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69)

Persönlichkeitsstörungen: tief verwurzelte, anhaltende Verhaltensmuster, die sich in starren Reaktionen in unterschiedlichen Lebenslagen zeigen

Abweichung des Denkens, Fühlens, Wahrnehmens, Beziehungen zu anderen

paranoid, schizoid, dissozial, emotional instabil, histrionisch, anankastisch, ängstlich, abhängig

Störungen der Impulskontrolle, der Geschlechtsidentität, der Sexualpräferenz

Intelligenzminderung (F70-F79)

deutlich erhöhtes Risiko für andere psychische Störung

Entwicklungsstörungen (F80-F89)

eng verbunden mit Reifung des ZNS, Beginn in Kindheit, meist Junge betroffen, auch Autismus

Verhaltens- und emotionale Störungen der Kindheit (F90-F99)

früher Beginn, überaktives, wenig flexibles, wenig ausdauerndes, zeitstabiles Verhaltensmuster

hyperkinetische Störungen, Störungen des Sozialverhaltens, emotionale Störungen, Störungen sozialer Funktionen, Tics, Enuresis, Stottern

Unterschiede zum DSM-IV

Probleme bei der Klassifikation abweichenden Verhaltens

  1. Gruppe von Kritikern: hält jegliche Klassifikation abweichenden Verhaltens für irrelevant
  2. Kritiker: Mängel in der Art, wie Diagnosen gestellt werden

Relevanz der Klassifikation

durch Klassifikation entgeht uns Information, aber: Kategorisieren und Klassifizieren ist unabdingbarer Teil menschlichen Denkens

wichtig: ist verlorene Information relevant ?

Klassifikation kann Menschen stigmatisieren

Klassifikation ist von heuristischem Wert

Kritik an der gegenwärtigen diagnostischen Praxis

diagnostische Klassen sind weder reliabel noch valide

Diskrete Verteilung versus Kontinuum

bei Klassifikation wird diskrete Verteilung diagnostischer Kategorien vorausgesetzt tex2html_wrap_inline192 Kontinuität zwischen normalem und abnormalem Verhalten kann nicht Rechnung getragen werden

Das Problem der Reliabilität

Reliabilität: Ausmaß, in dem ein Klassifikationssystem, Test oder sonstige Meßmethode bei jeder Anwendung zur selben wissenschaftlichen Beobachtung führt tex2html_wrap_inline192 meist gute reliabilität der Diagnosen

Das Problem der Validität

valide ist eine Klasse dann, wenn sich richtige Aussagen und vorhersagen über sie treffen lassen

je weniger reliabel eine Kategorie ist, um so schwieriger sind valide Aussagen über sie

nicht hinreichend reliable Aussage hat auch geringe Validität

ätiologische Validität: für Störung von Patienten mit gleicher Diagnose sind auch gleiche lebensgeschichtliche Umstände verantwortlich

Übereinstimmungsvalidität: weitere Symptome / Störungsprozesse, die nicht zur Diagnose zählen, sind für Patienten charakteristisch

Vorhersagevalidität: zukünftige Entwicklung der Störung und der Patienten, bestimmter verlauf, ähnliche Reaktion auf eine bestimmte Behandlung

Das DSM und die Diagnose-Kritik

Hauptmerkmale und Nebenmerkmale

zufriedenstellende Reliabilitäten für die meisten Hauptkategiorien

kulturelle Vorurteile können sich einschleichen


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Carolin Stroehle
Thu May 18 08:25:13 MET DST 2000